Kapitulation der Vernunft

1. Erst jüngst überboten sich französische Intellektuelle in ihrem Eifer. Von Bosnien über den Kosovo bis Tschetschenien, an jeder Front der neuen Weltunordnung. Ihr Schweigen zum imperialen Kreuzzug in Afghanistan und zur verbrecherischen Politik der Sharon-Regierung in Palästina ist um so ohrenbetäubender. Dieser unrühmliche Rückzug hat leider auch mit der relativen Schwäche der Antikriegsmobilisierungen in Frankreich zu tun – verglichen mit den Demonstrationen, die in den meisten europäischen Ländern stattgefunden haben.

Er besiegelt eine ideologische Debatte, die Ende der 70er Jahre mit dem Aufstieg der „neuen Philosophen“ in den Medien begann. Bereits diese Intellektuellen hatten begonnen dem Antikolonialismus Lebewohl zu sagen und zur Verteidigung des Antitotalitarismus im Namen der tugendhaften westlichen Demokratie überzugehen. Diese Massenbekehrung hat in einem solchen Ausmaß in Großbritannien und Italien nicht stattgefunden. Der Lackmustest des Krieges in Afghanistan erlaubt uns, das Ausmaß des Schadens und die Folgen dieser Kapitulation des kritischen Denkens zu ermessen, welches im Leitmotiv des Bernard-Henri Lévy auf perfekte Weise zum Ausdruck kommt: Begreifen heißt anfangen zu rechtfertigen. Denn aus Furcht vor Rechtfertigung, sollte man erst gar nicht versuchen zu begreifen. Daraus folgt dann, dass es nichts mehr zu begreifen gibt.

An diesem Rückzug aus der Vernunft schockiert zuerst die Art und Weise, in der hier mit Betäubung auf ein Ereignis reagiert wird, das als undenkbar betrachtet wird, als ohne Ursachen, Vorläufer oder Folgen, als sei es ein reines Wunder, das aus dem historischen Nichts hervorging. Auf unterschiedlichen Wegen gelangen Claude Lanzmann und Jean Baudrillard zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Für ersteren annulliert „die radikale Neuheit des Ereignisses“ alle vorangegangenen Kategorien politischen Verstehens. Für den zweiten trotzt „das absolute, das reine Ereignis nicht nur einer Moral, sondern jeder Form der Interpretation“. Balzac jedoch wusste schon, dass das „absolute Ereignis“, das mittels theologischer Wunder statt durch die profane Geschichte erklärt wird, in der Politik nicht existiert. Es gibt immer ein Vorher und ein Danach, Ursachen und Konsequenzen.

2. Dieser Raum, aus dem die Politik vertrieben ist, wird nun ein passender Ort für Abstraktionen, Wahnvorstellungen und Verdinglichungen. Es gibt keine realen Interessen, die miteinander in Konflikt stehen, und keine Widersprüche mehr, die ihren eigenen Ausdruck haben, sondern nur noch Schatten und Gespenster. Der Schatten der „Demokratie“ bekämpft das Gespenst des „Terrorismus“. Der bekannte Ökonom François Rachline bringt das neue Jahrhundert auf den Punkt: „Das 21.Jahrhundert beginnt mit einem neuen Totalitarismus: dem Terrorismus.“ So neu in Wahrheit nicht, wenn man sich die Mühe macht und noch einmal Reden von führenden US-Politikern liest. Seit Ronald Reagan haben sie unaufhörlich einen neuen antiterroristischen Kreuzzug gefahren und auf diese Weise einen Ersatz für das vor dem Zusammenbruch stehende sowjetische „Reich des Bösen“ vorbereitet. Es war nötig, neue Vorwände für die Aufrechterhaltung militärischer Bündnisse und die Wiederaufnahme des Wettrüstens zu finden. Der Antiterrorismus löste den Antitotalitarismus ab, und die eine und unteilbare Zivilisation wird dabei weiterhin mit der Marktdemokratie gleichgesetzt.

Doch wissenschaftliche Studien ergeben eindeutig: „Terrorismus und Vergeltungsmaßnahmen sind, wenngleich spektakulär, nur zweitrangige Ereignisse vom Standpunkt der Anzahl der Opfer. Die strukturelle Gewalt, die einer großen Zahl von Kriegen und Terrorakten zugrundeliegt, wirkt langsam: ihre Opfer sterben nach und nach, oft an den Folgen von Infektionskrankheiten.“ Unpersönlich und oft unsichtbar hat diese strukturelle Gewalt keinen Anstifter oder direkten Verursacher, aber sie ist nicht weniger mörderisch und hat ihren Ursprung in Ungleichheit und sozialer Ungerechtigkeit.

So schreibt Aijaz Ahmad, Autor des brillanten Buches Classes, Nations, Literature: „Der Terrorismus, der die USA heimsucht, ist das, was geschieht, wenn die kommunistische Linke und der säkulare antikolonialistische Nationalismus besiegt, die von der imperialistischen Herrschaft geschaffenen Probleme aber akuter als je zuvor sind. Hass tritt an die Stelle revolutionärer Ideologien, privatisierte Gewalt und Vergeltung an die Stelle nationaler Befreiungskämpfe. Möchtegernmärtyrer ersetzen die organisierten Revolutionäre. Die Unvernunft wächst stärker, wenn die Vernunft vom Imperialismus monopolisiert und sie in ihren revolutionären Formen zerstört wird.“

3. Die Herrscher der Welt gewinnen dabei zweifach. Sie stellen die Vernunft auf ihre Seite und stoßen jene, die ihnen Widerstand leisten, in die Hölle von Wahnsinn und Mythos. Kriege, die im Namen der „Humanität“ geführt werden, an diesem Punkt war Carl Schmitt korrekt, kennen keinen Feind mehr. Sie ziehen eine definitive Grenze zwischen Mensch und Unmensch. Der „Andere“ ist nicht mehr ein Teil der Menschheit, sondern ein Tier, das aus der menschlichen Spezies verstoßen werden muss. Es ist kennzeichnend, dass die Karikaturen von Milosevic (die ihn als Schwein zeigen) mit dem Thema der Vertierung spielten, während die Wochenzeitungen im Jargon der Jagd davon sprechen, Bin Laden „aufzuspüren“.

Dieses imperiale Monopol der Darstellung der Spezies hat Folgen: Der Krieg ist kein politischer Konflikt mehr, sondern ein ethischer (oder heiliger) Krieg im Namen des absolut Guten. Rechte lösen sich auf in Moral, und ohne erklärte objektive, im rechten Verhältnis stehende Beziehung zwischen seinen Zwecken und seinen Mitteln wird Krieg schrankenlos und unbegrenzt. Der narzisstische westliche Imperialismus verleiht sich somit selbst einen unausschöpflichen Kredit guten Gewissens – Bush im Oktober 2001: „Ich weiß, wie gut wir sind“ –, denn er hat die Aufgabe, dem göttlichen Willen auf Erden Geltung zu verschaffen.

4. Es überrascht also nicht, wenn Berlusconi auf seine Art den Zusammenstoß der Zivilisationen aufgreift. Und man ist auch nicht erstaunt, wenn dies, wenngleich in subtilerer Weise, einer der servilen Intellektuellen von Les Temps Modernes tut. Für Robert Redeker versuchen die 113 Unterzeichner eines Appells gegen den imperialen Krieg, „die Grenze zu verwischen“, die als Resultat der Kritik des Totalitarismus zwischen dem Intellektuellen und dem Aktivisten entstanden sei: „Der Islam ist heute der Glaube der Unterdrückten, wie es der Kommunismus gestern war, und die gegenwärtige Islamophilie wird heute von demselben Geist gerechtfertigt wie damals die Sowjetophilie.“

Wir, die wir nie Sowjetophile waren, sondern Antistalinisten und Internationalisten, haben weder Grund islamophob noch islamophil zu sein, insofern wir den Islam als ebenso vielfältig betrachten wie das Judentum oder das Christentum. Die Logik von Bush (wer nicht mit mir ist, ist mein Feind!) ist eine armselige Logik des ausgeschlossenen Mittelwegs: wer gegen das Empire ist, sympathisiert mit dem islamischen Fundamentalismus!

Von seinem Eifer fortgetragen fährt Redeker fort: „Keine Ideologie ist rückschrittlicher als der Islam in Bezug auf den Kapitalismus, dessen Symbol die Zwillingstürme in ihrer majestätischen Schönheit waren.“ Er fügt hinzu, dass „die moslemische Religion eine barbarische Regression darstellt“. Die Ästhetik wird hier mit einer Politik in Übereinstimmung gebracht, die die Zwillingstürme als „neue Türme von Babel“ betrachtet, als Symbole der „Kreuzung verschiedener Formen des Andersseins“! Dem terroristischen Streben nach dem Absoluten stellt Redeker eine maßvolle „Logik des zu Bevorzugenden“ entgegen, womit er sich auf billige Weise mit der herrschenden Ordnung versöhnt. Als Mutter aller Kapitulationen ist diese Logik, die nichts anderes ist als die des kleineren Übels, oft nur der kürzeste Weg zum Schlimmsten.

5. Für ihren besonderen Dienst am intellektuellen Kretinismus in Kriegszeiten verdient Monique Canto-Sperber, eine Spezialistin für Moralphilosophie (!), eine spezielle Erwähnung. Wenn ein Bauarbeiter eine morsche Mauer errichtet, riskiert er seine Entlassung wegen beruflichen Versagens. Eine Forschungsleiterin am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) unterliegt nicht solchen Gefahren. Wie schön für sie. Während die Spürhunde des FBI vergeblich versuchen, das Gewirr terroristischer Netzwerke und deren finanzielle Verbindungen zu lösen, enthüllt sie auf der Titelseite von Le Monde, drei Tage vor dem Beginn der Bombardierung Afghanistans, dass sie die Spur von Bin Laden auf Trotzki und Saint-Just zurückverfolgt hat. Sie hat allerdings entdeckt, dass Trotzki in einem Pamphlet von 1938 mit dem Titel Ihre Moral und unsere im Namen des „absoluten Charakters des verfolgten Ziels und der Gleichgültigkeit der Mittel“ die „Rechtfertigung des Terrorismus“ geliefert habe. Tatsächlich sagt Trotzki exakt das Gegenteil: „Das Ziel, das die Mittel rechtfertigt, wirft unverzüglich die Frage auf: Und wodurch wird das Ziel gerechtfertigt?” Denn das Ziel “bedarf ebenfalls der Rechtfertigung“.

6. Diese Forderung kehrt sich wie ein Bumerang gegen die Vorbeter des imperialen Kreuzzugs. Was genau ist ihr Ziel? Bin Laden, der erst gestern ihr Mittel im Kampf gegen den Kommunismus war, die Taliban, das Öl, die neue Weltordnung, die Vernichtung des Terrorismus, den sie selbst bewaffnet haben? Rechtfertigen all diese noblen ethischen Ziele die schändlichsten militärischen Mittel, die Bombenteppiche aus Splitterbomben, mit Uran angereicherte Waffen und Nuklearwaffen – die terroristischen Waffen par excellence in dem Sinne, dass sie jeden Unterschied zwischen Kombattanten und Zivilisten auslöschen?

Fortgetragen von der lyrischen Begeisterung für den Kreuzzug des Guten fragt Alain Minc, erst jüngst von den Segnungen der kapitalistischen Globalisierung eingenommen: „Wäre es im Namen des Respekts vor der Zivilbevölkerung nötig gewesen, dass die Briten Dresden und die Amerikaner Hiroshima nicht bombardiert und auf diese Weise den Zweiten Weltkrieg verlängert hätten?“ Wer das Ziel will, will die Mittel! Niemand hat je zeigen können, dass Hiroshima der einzig mögliche Weg war, den Krieg zu beenden, während es gewiss ist, dass diese Bombe eine neue Ära der Eskalation des Staatsterrorismus eingeleitet hat. Wenn es einen religiösen Fundamentalismus gibt, dann gibt es dementsprechend auch einen Fundamentalismus des Marktes und Alain Minc ist sein Mullah.

7. Jene, die sich der imperialen Heiligen Allianz und ihrem afghanischen Kreuzzug widersetzen, können nur von der charakteristischen Pathologie des Linksintellektuellen motiviert sein: Antiamerikanismus in Kombination mit einem unterschwelligen Antisemitismus, der sich als Antizionismus tarnt. Bei diesem Punkt gibt es einen gequälten Chor der Missbilligung von Jacques Julliard bis Alain Finkielkraut. Der erste beklagt, dass „seit der ruhmreichen Episode der Dreyfus-Affäre die französischen Intellektuellen systematisch das Lager der Feinde der Freiheit gewählt haben“. Die Unterstützung für den algerischen Befreiungskampf oder die Bewegung gegen den Krieg in Vietnam versetzt einen also in das Lager der Feinde der Freiheit? Der Antiamerikanismus ist für Julliard nach dem Zusammenbruch des Marxismus zu einer sicheren Investition für die intellektuelle Linke geworden.

Will man Beispiele für französischen Antiamerikanismus finden, ist es vielmehr nötig, die französische nationalistische Tradition zu betrachten, ihre gaullistische wie ihre stalinistische Variante. Marxistische Intellektuelle, die diese Bezeichnung verdienen, denken in Begriffen politischer Kategorien. Sie bekämpfen nicht „die Amerikaner“ als Volk, sondern den US-Imperialismus. In derselben Weise bekämpfen sie den europäischen Imperialismus und dessen Kolonialkriege. Wenngleich es keinen „Antiamerikanismus“ gibt, so gibt es doch auf der anderen Seite einen servilen und eifernden „Amerikanismus“, beispielhaft repräsentiert durch den Herausgeber von Le Monde, Jean Marie Colombiani, und dessen Titelschlagzeile: „Wir sind alle Amerikaner!“ Es wäre nicht erstaunlich, wenn dieser idiotische Amerikanismus einen „Antiamerikanismus“ hervorbrächte, der der Antiimperialismus der Idioten wäre.

8. Was Alain Finkielkraut betrifft, so lässt er sich die Gelegenheit nicht entgehen, die Urheber der Anschläge zu beschuldigen, den Westen zu hassen nicht für das, was er Schlechtes tut, sondern wegen seiner besten Eigenschaften: „die Zivilisierung der Männer durch die Frauen und die Verbindung zu Israel“. Man muss sich die Augen reiben. Als ob die Rechte, die die Frauen errungen haben, ein Geschenk des Westens und nicht Frucht ihrer eigenen Kämpfe wären! Und als ob der zionistische Staat, begründet auf religiöser Diskriminierung und militärischer Besatzung, die Krönung der Zivilisation sei (was außerdem eine Menge über diese Zivilisation aussagen würde)!

Anders als der Antisemitismus, der in der Epoche des Imperialismus die Durchdringung von Politik mit Rassismus bedeutet, ist der Antizionismus eine politische Position, die der Auffassung ist, dass ein jüdischer Staat, der auf konfessionellen Grundlagen beruht, die Juden Israels direkt in eine neue Katastrophe führen wird. Während sie annahmen, dort Sicherheit zu finden, ist Israel bereits jetzt der Ort in der Welt, in dem sich Juden am meisten bedroht fühlen. Und Sharons ungestüme Flucht in die Eskalation unter dem Vorwand der Sicherheit verschärft diese Angst nur noch. Das Amalgam aus Antisemitismus und Antizionismus führt paradoxerweise dazu, dem wirklichen Antisemitismus Vorschub zu leisten, indem die Vorstellung vertreten wird, ein guter Jude sei notwendigerweise ein Zionist.

9. Indem er auf die Ereignisse des 11.September seine eigene Kampagne gegen die moderne Kunst pfropft, fügt der Kunstkritiker Jean Clair der Kontroverse eine kulturelle Dimension hinzu. In seinen Augen werden gar die Surrealisten durch ihre systematische Verunglimpfung westlicher Werte zu geistigen Vätern Bin Ladens: „Die französische Intelligenz ging sehr früh und sehr weit in ihrer vorbildhaften Darstellung dessen, was am 11.September geschah.“ Breton, Bin Laden, Mullah Omar, derselbe Kampf? Dies beschwört unvermeidlich einen Kreuzzug gegen „dekadente Kunst“ herauf.

Gekürzt aus: International Viewpoint, Nr.342,
Juli/August 2002 (Übersetzung: Hans-Günter Mull).
www.danielbensaid.org

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