International statt kommunitär

Warum ich einen Aufruf „als Jude“ unterschrieben habe

Nach dem Beginn der zweiten Intifada kam es letzten Herbst in Frankreich zu einer Welle von Anschlägen gegen Synagogen, Plünderungen jüdischer Geschäfte seitens Jugendlicher arabischer Abstammung. Dagegen meldeten sich jüdische Intellektuelle mit einem Aufruf in Le Monde zu Wort, der die Zurückweisung dieser Gewalttaten mit einer Kritik der Politik des israelischen Staates gegenüber den Palästinensern verband (siehe SoZ 23/00). Im Folgenden begründet Daniel Bensaïd, führendes Mitglied der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR/IV.Internationale), warum er diesen Aufruf „als Jude“ unterschrieben hat – für uns ein Beitrag zur Diskussion der deutschen Linken zum Thema Israel/Palästina. (Übersetzung: Manuel Kellner.)

Die Logik des Krieges scheint zu obsiegen und ein vielleicht irreversibler Schritt beim Marsch in die Katastrophe beinahe gemacht. Die Mehrheit der westlichen Kommentatoren hatte in der Ethnisierung der Balkankrise das monströse Produkt der Zersetzung der nationalistischen bürokratischen Regime sehen wollen (wobei sie aus offensichtlich ideologischen Gründen darauf bestehen, diese Regime als „kommunistisch“ zu bezeichnen). Wir entgegneten dem, dass, wenn es sich da um die letzten Verwerfungen einer zerfallenden Ordnung handeln würde, das Phänomen, so tragisch es auch sei, begrenzt wäre und Ausnahmecharakter hätte.

Wir vertraten, dass es sich leider um eine tiefere allgemeine Tendenz zur Ethnisierung und Konfessionalisierung der Politik handelt, um eine Folge der imperialistischen Globalisierung und der Schwächung des Bezugs auf Klasseninteressen. Diese Gefahr, die Hannah Arendt im ersten Band zu den Ursprüngen des Totalitarismus benannte, ist in Afrika und in bestimmten Regionen Asiens bereits manifest. Die Entwicklung des israelisch-palästinensischen Konflikts lässt ein ähnliches Abgleiten befürchten.

Gegen die Abstammungsmythen

Im international reaktionären Kontext der liberalen Konterreform nehmen nationale Befreiungskriege immer öfter die Erscheinungsform von Religionskriegen an. Die politischen Konflikte schlagen um in Kämpfe zwischen Stämmen oder anderen verschiedenartig definierten Gemeinschaften. Die enttäuschten demokratisch nationalen Forderungen führen zu einer Abwendung von laizistischen und staatsbürgerschaftlichen Definitionen der Nation und suchen ihre Begründungen in irgendwelchen Abstammungsmythen.

Dieser Naturalismus oder Biologismus führt zu einer „zoologischen“ Konzeption der Nation. Wohin soll das führen, wenn heute israelische religiöse Führer die Vetreibung der Palästinenser mit dem chronologischen Vorrang des Tempels von Salomon oder des Josephsgrabs gegenüber den heiligen Stätten des Islam begründen? Wird morgen irgendein tumber Papstanhänger die Israelis von heute anklagen, an ihnen klebe noch immer das Blut des Gekreuzigten?

Diese Logik ist aber tatsächlich im Gesetz über das Rückkehrrecht der Juden aus der Diaspora am Werke, denen das Recht der Erlangung der israelischen Staatsbürgerschaft zusteht. Sie läuft darauf hinaus, auf die Juden das Blutrecht anzuwenden, das wir in Deutschland oder in Frankreich entschieden verurteilen, während den Palästinensern das territoriale Staatsbürgerrecht und das Recht auf Grund und Boden verweigert wird.

Dieser Konfikt muss also repolitisiert werden, um ihn zu entkonfessionalisieren. In dem zugrunde liegenden Konflikt stehen sich in Wirklichkeit nicht zwei geschlossene Religionen oder Identitäten gegenüber. Der Konflikt durchzieht vielmehr beide „Gemeinschaften“ und weist in der Optik der gemeinsamen Zugehörigkeit zur Menschheit über sie hinaus.

Je mehr an alle Juden appelliert wird, hinter dem Staat Israel und seinen Regierenden zusammenzustehen, je mehr die gesamte Diaspora mit dem jüdischen Staat und alle Juden mit dem Zionismus identifiziert werden, desto mehr werden junge Palästinenser und Araber in den Irrtum getrieben, israelische Botschaften und Synagogen in einen Topf zu werfen und Antizionismus mit Antisemitismus zu vermengen.

Nachdem der Antisemitismus schon einmal der „Antikapitalismus der dummen Kerle“ war, könnte er nun zum „Antiimperialismus der dummen Kerle“ werden. Die Aufrufe zur heiligen Allianz der ethnisch, religiös, geschichtsmythologisch begründeten Gemeinschaft tragen ihr gerüttelt Maß an Verantwortung dafür.

Darum habe ich in Frankreich „als Jude“ einen Aufruf von 200 Juden in Solidarität mit den Rechten der Palästinenser unterschrieben. Ohne jede Absprache entstanden ähnliche Initiativen in den USA, in Großbritannien, Kanada und Australien. Der Ansatz ist ungewöhnlich (vor zwanzig Jahren hätte ich mir so etwas gar nicht vorstellen können) und sollte eine Ausnahme bleiben.

Zum Teil erklärt er sich aus dem beschämenden Schweigen der offiziellen Linken angesichts der zionistischen Übergriffe in den besetzten Gebieten, gegenüber der Missachtung der UNO-Resolutionen und des Abkommens von Oslo seitens der israelischen Regierungen. Er rechtfertigt sich durch die Weigerung, gegen den eigenen Willen im Namen einer vorgeblichen kommunitarischen Gemeinschaft in die Gefolgschaft des israelischen Staates gezwungen zu werden.

Für Laizismus und Internationalismus

Persönlich verstehe ich mich zuerst als laizistischen und internationalistischen Aktivisten und als Staatsbürger des Landes, in dem ich lebe und arbeite. Als Jude bezeichne ich mich nur unter zwei Umständen: Gegenüber Antisemiten, in der Erinnerung an die Leiden der Vergangenheit, und gegenüber Zionisten, die vorgeben, in meinem Namen zu sprechen.

Natürlich gerät man dabei in Widersprüche. Doch diese Widersprüche sind ein Produkt der Geschichte. Der Massenmord der Nazis an den Juden war eine hundertprozentig europäische Tragödie, so wie die Dreyfus-Affäre eine hundertprozentig französische Angelegenheit war. Diese Massenmord hat die Unausweichlichkeit der Assimilation dem Zweifel ausgesetzt: „Wie Phönix ist das Judentum aus der Asche von sechs Millionen Juden wiedererstanden. Was für eine Auferstehung!“, vermerkte Isaak Deutscher im Ton der Verzweiflung.

Der bürokratische Antisemitismus der stalinistischen Sowjetunion hat die “sozialistische” Emanzipation der Juden dem Zweifel ausgesetzt. Die Gründung des Staates Israel war Vergegenständlichung der – rationalen und irrationalen – Ängste der Diaspora und hat jenen „seltsamen Zionismus“ hervorgebracht, den Wladimir Rabi als „geliehenen Zionismus“ bezeichnete. So hat die Geschichte entschieden, die „Judenfrage“ in morbider Weise erneut zuzuspitzen.

Darum zwingen mich gewisse konkrete Situationen, mich selbst als Juden zu bezeichnen, nicht als Ausdruck irgendeiner Wesenhaftigkeit oder Naturbedingtheit, sondern als Notwendigkeit in einer bestimmten gesellschaftspolitischen Konstellation. Als nichtjüdischen Juden gewissermaßen, im Sinn einer Herausforderung.

Dazu fühle ich mich heute durch den Diskurs der israelischen Führung und der offiziellen Sprecher der jüdischen Gemeinschaften gedrängt, die alle Opfer des Massenmords an den Juden vereinnahmen wollen. Sie verfälschen damit ein Erbe, begehen einen (bewaffneten) Überfall auf die geschichtliche Erinnerung, eignen sich in illegitimer Weise das kollektive Unglück an. Vor dem Krieg war der Zionismus in der jüdischen Bevölkerung Europas noch eine minderheitliche Strömung. Sicherlich gab es unter den Opfern der Deportationen und der Gaskammern Zionisten, aber wieviele Kommunisten, Bundisten, Trotzkisten gab es unter ihnen, insbesondere aus den Reihen des Widerstands?

Die jüdischen Kämpfer der internationalen Brigaden in Spanien, einschließlich derer der Botwin-Brigade, setzten sich nicht für die „Gründung eines jüdischen Staates auf dem Boden Israels“ ein. Sie kämpften, um sich dem Faschismus entgegenzuwerfen, zweifellos als Juden, aber auch, untrennbar davon, mehrheitlich als Kommunisten, als emigrierte Opfer der großen Krise, als „Ausgegrenzte der Erde“, als Proletarier.

Die kommunitaristische Logik führt zur Auslöschung aller anderen Zugehörigkeit, zur Verwischung der Gegensätze innerhalb der Gemeinschaft. Man lese Le fumier de Job von Bernard Lazare. Durch die Dreyfus-Affäre auf sein Judentum zurückgeworfen wusste Lazare aus eigener Erfahrung sehr gut, dass die „jüdische Gemeinschaft“ vom Klassengegensatz zerrissen war. Er hatte die Feigheit und Scheinheiligkeit der jüdischen Bourgeoisie und der religiösen Hierarchie am Werke gesehen. Er sagte dies offen: „Die Juden haben sich erneut zerstreut, sind erneut zerfallen … da die Bourgeoisie Privilegien erlangt und sich vom Volk abgesondert hat.“

Konsequent rief er die Juden dazu auf, nicht nur „in der Gesellschaft der anderen revolutionär“ zu sein, sondern „auch in der eigenen“. Er rief sogar zur Erhebung „gegen die Unterdrückung im Innern“ auf. Unversöhnlich, zornig und prophetisch gerecht rief er aus: „Ihr, die ihr euch um die Reichen drängt, ihr seht nur noch diese!“ Lazare war entschieden kein Zionist; er sagte: „Unser Vaterland besteht aus so vielem, aus so vielen Erinnerungen, aus so vielem Bedauern, aus so vielen Freuden, Tränen, Schmerzen, dass ein kleines miserables Stück Boden es nicht tragen könnte.“

Gegen das Staatsmonopol der Erinnerung

Die Geschichte gibt uns das Recht, uns noch heute gegen die „Unterdrückung im Innern“ zu erheben, gegen die illegitime Aneignung der Lebenden und der Toten, gegen das Staatsmonopol der Erinnerung. Dies vor allem, um den Riss in der falschen Gemeinschaft deutlich zu machen, um falsche Identität aufzulösen. Zu zeigen, dass „die Juden“ und die israelischen Regierenden nicht dasselbe sind, ist ein Mittel des Kampfes gegen den Antisemitismus.

Wenn man sich auf das Terrain der politischen Vernunft anstelle desjenigen der religiösen oder volksgemeinschaftlichen Unvernunft begibt, dann kann man immer jenseits der Grenze verwandte Seelen entdecken. So fühle ich mich den palästinensischen Aktivisten und Intellektuellen näher als Laurent Fabius, Dominique Strauss-Kahn oder Rabin Sitruk, von Sharon oder Barak gar nicht zu reden. Und ich hoffe, dass die palästinensischen Widerstandkämpfer ebenfalls mehr mit mir, mit Rony Brauman, Michael Warschawski (und vielen anderen) gemeinsam haben als mit Mubarak, Ben Ali oder den saudischen Ölmonarchen. Der in Le Monde am 18.November erschienene Aufruf von Franzosen arabischer Herkunft und von in Frankreich lebenden Arabern bezeugt, dass es sich so verhält.

Dieser Aufruf setzt sich für die Rechte der Palästinenser ein und verurteilt ebenso klar „jedes Abgleiten in Rassismus oder konfessionelle Konfrontation, jede rassistische Tat, jeden rassistischen Diskurs, insbesondere Anschläge auf Synagogen und Angriffe auf jüdische Schulen“. So bescheiden diese wechselseitigen symbolischen Gesten auch sind, sie streuen doch etwas Sand ins Getriebe der kommunitarischen Eskalation und halten eine kleine internationalistische Flamme am Leben. Diese Auseinandersetzung geht weit über den tragischen Konflikt im Mittleren Osten hinaus.

Ich beabsichtige mit diesen Zeilen meine Beunruhigung angesichts der um sich greifenden religiösen oder ethnischen Bezugnahmen und meine Unterstützung für die berechtigten Forderungen des palästinensischen Volkes auszudrücken. Ich beanspruche nicht, eine wundersame Lösung des Problems aus dem Hut zu zaubern. Doch wie Karl Kraus sagte, soll man sich in einer unübersichtlichen Situation für das Wahre entscheiden. Und wahr ist, dass die seit 1967 besetzten Gebiete palästinensische Gebiete sind, und dass sich die israelische Armee in ihnen wie eine Besatzungsarmee verhält. Wahr ist, dass zuerst die UNO-Resolutionen umgesetzt, die jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten aufgelöst werden müssen. Das Recht der Palästinenser auf einen eigenen souveränen Staat und das Rückkehrrecht der 1948 Vertriebenen muss anerkannt werden. Das alles wäre vermutlich nicht ausreichend, aber doch ein wichtiger Schritt in Richtung Frieden.

Denn auf längere Sicht ist der dem Staat Israel innewohnende Widerspruch explosiv: einerseits ein halbkonfessioneller jüdischer Staat zu sein, andererseits seine Selbstdarstellung als überkonfessioneller demokratischer Staat. Dieser Widerspruch nährt die Logik weiterer Ausgrenzungen und gar erneuter „Transfers“ von Bevölkerungsteilen, was von einigen israelischen Politikern und Militärs schon heute ins Gespräch gebracht wird. Doch Apartheidpolitik, ethnische und territoriale Säuberung samt der Errichtung von Bantustans sind Grundlagen für künftiges Wiederaufflammen des Konflikts. So untergräbt man die Bedingungen für einen dauerhaften Frieden und, im Gegensatz zu dem, was die zionistischen Führer behaupten, wahrt man so nicht die Sicherheit der in Israel lebenden Juden – ganz im Gegenteil.

Die Flucht nach vorne in den Krieg erneuert übrigens die Erblast des Gründungsakts, soll ein nationales und gesellschaftliches Mosaik zusammenschweißen, das einen Staat bildet, aber keine Nation. Mit was für Neurosen und paranoiden identitären Panikzuständen geht eine Gesellschaft schwanger, die sich in dieser Weise auf die Angst vor den anderen gründet? Wie lange Zeit, bis wann, bis zu welchem Punkt wird die Logik des Krieges die wirklichen Fragen überdecken?

1967 erschien das Buch von Nathan Weinstock1 mit dem symbolträchtigen und prophetischen Titel Das Ende Israels?* 1970 sah derselbe Weinstock die Tatsache einer israelischen Nationbildung als gegeben an, unterstrich aber zugleich, die Zukunft der Region hinge von einer Entzionisierung des Staates Israel ab, das heißt von der Auflösung der bestehenden politisch-gesellschaftlichen Strukturen.

Darüber hinaus impliziert ein wirklicher Friedensprozess die Anerkennung gleicher Bürgerrechte für Araber und Juden. Er setzt die Anerkennung des Rechts der Palästinenser auf Selbstbestimmung und Souveränität voraus. Ob die Koexistenz beider Völker die Form zweier getrennter überkonfessioneller und demokratischer Staaten annimmt, einer Föderation oder eines binationalen Staates, ist eine historisch offene Frage. Verschiedene institutionelle Lösungen sind denkbar. Damit sie auf die Tagesordnung kommen können, muss damit begonnen werden, das den Palästinensern angetane Unrecht wiedergutzumachen.

Die israelische Führung hingegen verfestigt Gefühle, die denjenigen der Insassen einer belagerten Festung gleichen. Für die israelische Bevölkerung selbst stellt dies eine tragische Sackgasse dar. Darum ist es notwendig, gerade als Juden diese Politik zu bekämpfen, getrieben von der Sorge, dass eine erneute Katastrophe droht.

Von Daniel Bensaïd erschien in SoZ 13/98 als Beilage: „Kommunismus und Stalinismus. Antwort auf das Schwarzbuch des Kommunismus“.
www.danielbensaid.org

Documents joints

  1. Deutsche Ausgabe: Nathan Weinstock: Das Ende Israels? Nahostkonflikt und Geschichte des Zionismus. Berlin: Wagenbach, 1975.
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